Aus den Augen, aus dem Sinn. Oder ist es umgekehrt?

Das ist ein Zitat aus einem Buch, in dem ich heute gelesen habe. Wir sind im Urlaub, und mir ist ein Buch über Soziologie in die Hände gefallen. Es ging in dem Kapitel um den Philosophen Michel Foucault und seine Theorien über Identität und Macht.

Soziale Identitäten werden durch diejenigen definiert, die die Macht besitzen, Menschen zu klassifizieren und zu kategorisieren. Menschen internalisieren, also verinnerlichen, die von außen getroffenen Klassifizierungen.

Ich dachte darüber nach, wie sehr auch die „Entscheider*innen“, also nicht Betroffene, Annahmen über Kinder mit einer sogenannten geistigen Behinderung verinnerlicht haben müssen. Das schließt logischerweise auch uns Eltern mit ein.

Dann dachte ich an meine 10-jährige Tochter. Wie empfindet sie es, und was macht es mit ihr, dass sie als „geistig behindert“ bezeichnet wird? Dabei meine ich nicht ihre Behinderung an sich, sondern die vielen negativen Stigmata, die damit einhergehen.

Warum setzen Menschen ohne eine sogenannte geistige Behinderung überhaupt derartige negative und vor allem folgenreiche Wertungen in die Welt? Ist es Angst? Das Streben nach Überlegenheit? Eine Abgrenzung, um den eigenen Status als Leistungsfähigen im Sinne unserer Leistungsgesellschaft zu sichern? Merken wir es nicht einmal? Oder ist es einfach nur gut gemeint? Doch was wissen wir, die doch so wenige Berührungspunkte haben, schon über das Denken und Fühlen von Menschen, die wir als geistig Behindert bezeichnen? Und was bringt uns dazu, dass wir uns anmaßen, über sie urteilen zu können, um sie im Ergebnis oft nur klein zu halten? 

 Ich werde manchmal nicht verstanden, wenn ich kritisch über soziale Institutionen nachdenke. Mir wird dann das Gefühl vermittelt, undankbar zu sein für alles, was für Menschen wie meine Tochter oder andere Menschen mit Behinderung getan wird. Der soziale Bereich scheint nahezu heilig gesprochen zu werden. Als Sozialpädagogin bin ich selbst lange Zeit Teil dieses Systems gewesen und bin auch heute noch in Teilen verbunden. 

Ich habe viele Jahre in einer WfbM (Werkstatt für behinderte Menschen) gearbeitet. Ich habe im Laufe meines Lebens nun verschiedene Perspektiven einnehmen können. Zunächst die einer Mitarbeiterin, dann die Perspektive als Mutter einer Tochter mit Behinderung und seit einiger Zeit auch die Perspektive von isociety, dem kleinen Start-up mit unserem Team-Kollegen, der mit dem Down-Syndrom lebt.

 Doch sachlich betrachtet haben Hilfesysteme wie die WfbM Schattenseiten. Sie weisen wenig wirkliche Innovation im Sinne von Teilhabe auf. Die Vermittlung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt liegt bei unter 1 %. Wer also profitiert davon, dass für Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung eine Parallelwelt erschaffen wurde und dass sie heute noch erhalten bleibt? Die Diskussion macht meiner Meinung nach nur auf der Ebene des Systems Sinn. Es geht nicht darum, ob die Mitarbeitenden fachlich gut qualifiziert oder sympathisch sind in Sondereinrichtungen. Nett sind wirklich viele. Ich habe meinen Mann, den Vater meiner beiden jüngeren Kinder, dort kennengelernt.

 Doch mehr und mehr wird mir klar, dass die soziale Wirtschaft nach der Logik funktioniert, die eigene Existenz aufrechtzuerhalten. Da sind Mitarbeiter*innen, die bezahlt werden wollen und müssen. Es kollidieren aber nicht selten die Ziele im Sinne derjenigen, die Hilfe suchen, mit dem Mechanismus der permanenten Aufrechterhaltung der Existenz sozialer Träger. Ja, das ist jetzt hier sehr allgemein und vereinfacht gehalten. Die soziale Wirtschaft lebt von der Hilfsbedürftigkeit behinderter Menschen. Doch wird damit entsprechend umgegangen?

Ich halte es für notwendig, dass mögliche Zielkonflikte reflektiert und dem menschenrechtlichen Ansatz und dem sozialen Modell von Behinderung dieser Zeit entsprechend angepasst werden und nicht umgekehrt.

 

Behinderungen gehen weder in Sonderschulen noch in Werkstätten für Menschen mit Behinderung weg. Sie sind nur mehr oder weniger sichtbar für nicht behinderte Menschen.

Neulich hat mir eine Mutter erzählt, dass die zuständige Grundschule vom Besuch ihres Kindes mit Behinderung gut gemeint abgeraten habe. Er trage Windeln und das sei schwierig. Muss das Kind in der Sonderschule nicht gewickelt werden?

Bei unserer Schuluntersuchung machte meine Tochter die vorgesehenen Übungen nicht mit. Die Ärztin fand daher, dass sie wohl eher nicht für eine inklusive Schule geeignet sei. Warum eigentlich? Wenn sie eine Übung in einer sehr überschaubaren Situation wie der Schuluntersuchung nicht mitmacht, warum sollte das dann an einer Sonderschule besser sein? Der Punkt ist doch, dass „wir systembedingt denken, dass solche Kinder“ da hingehören und nicht in die Mitte der Gesellschaft. Und so werden wir als Eltern beraten. Und so denken wir dann auch selbst irgendwann.

 Unser Denken über Behinderung ist immer noch durch ein medizinisch-defizitorientiertes Denken sowie durch die Strukturen unseres Bildungs- und Sozialsystems geprägt.

Die Annahmen der nicht betroffenen Menschen über zum Beispiel Menschen mit Down-Syndrom sind tief verinnerlicht. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten konnte durch den medizinischen Fortschritt die Lebenserwartung von Menschen mit Down-Syndrom deutlich angehoben werden. Doch im Kern sind sie immer noch die „Anderen“, die irgendwie „weniger“-Menschen und die oftmals Unerwünschten.

Abschließend möchte ich meine Beobachtung aus einer Hospitation in einer Sonderschule vor wenigen Tagen teilen. Diese hinterlässt mich nüchtern betrachtet optimistisch: Denn wenn fünf Kinder von fünf Mitarbeiter*innen betreut werden, dann ist doch der Schritt zum gemeinsamen Lernen eigentlich zum Greifen nah. Wir müssten nur noch kurz das System revolutionieren.

 Autorin: Sarah

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